Auf Tauchstation
Hinweis: Der nachfolgende Text enthält enthält Passagen aus meinem Buch "Zurück nach Kreta - Zwanzig Tage Inselmagie"
Sanfte Hügel mit einem grünen Flaum gleiten an uns vorüber.
Am Fahrbahnrand leuchtet roter Mohn und jede Menge gelber Ginster.
Wie kann eine Insel nur so unfassbar schön sein!?
Heute ist es eine andere Schönheit als an Sonnentagen. Meist ist sie schüchtern und zurückhaltend.
Aber genauso gut versteht es unsere Inselfreundin, sich blitzschnell in einem anderen Gewand zu zeigen. Dann präsentiert sie uns ihre raue, wilde und ungezähmte Schönheit.
Netz bespanntes rotes Felsgestein türmt sich an den Seiten auf.
Wenn die Götter sauer sind, schmeißen sie manchmal mit Steinen. Teilweise sehen wir kraterartige Ausbuchtungen in den imposanten Felsen.
Wie mögen die dahin gekommen sein?
Ein Tunnel führt uns in das Herz des roten Berges hinein. Nachdem wir ihn durchquert haben, zeigt sich wieder der weite blaue Ozean. Er ist sehr aufgewühlt. Die Wellen peitschen wütend gegen die Felsen.
Heeerz-Momeeent!!!
Der Asphalt dampft, und das Gesicht des Berges löst sich inmitten der Regenfäden auf.
Doch der Himmel kann seine Schleusen öffnen so viel er will:
Für uns ist Kreta immer schön!
Ein Tag wie dieser kommt und wie geschaffen vor für einen Besuch des CretAquariums.
Das CretAquarium liegt in Goúrnes, einer ehemaligen US-Militärbasis.
Eine örtliche Gruppe aus Meeresforschern, Biologen und Tierschützern hat sich ihren Traum erfüllt, unter großen Anstrengungen einen Ort für seltene oder bedrohte Bewohner des Mittelmeeres zu schaffen.
2005 öffnete das CretAquarium seine Pforten für die Öffentlichkeit. Mit viel Fachwissen und Herzblut wird hier geforscht, entdeckt und gezüchtet. Verletzte Tiere werden versorgt und wieder ausgewildert.
In jedem der über 61 Becken ist erfahrbar, wie viel Liebe und persönliches Engagement in dieses Projekt hineinfließt.
Besucher können etwa 2500 faszinierende Meeresbewohner/Organismen beobachten und sich dabei (fast) so fühlen, als seien sie mitten unter den Seepferdchen, Quallen, Rochen und Haien.
Anschaulich wird auf das Problem der Meeresverschmutzung und die Auswirkungen aufmerksam gemacht.
Jährlich wird das CretAquarium nicht nur von Touristen besucht, sondern ist auch ein beliebtes und lehrreiches Ausflugsziel für Schulklassen.
Es ist ganzjährig auch an Feiertagen geöffnet.
Die jeweiligen Zeiten und Eintrittspreise können der Homepage entnommen werden.
Als wir das Aquarium erreichen, müssen sich meine Augen langsam an das Dämmerlicht gewöhnen. Die dezente Beleuchtung aus den riesigen Aquarien lässt märchenhafte Wasserspiegelungen über den Boden tanzen.
Sanft schwingende keltische Melodien schweben wie Wolken durch den Raum und schleichen sich sanft in mein Inneres. Sie erzählen vom mystischen Kreislauf der Natur und von der Faszination der Ewigkeit.
Die sphärischen Klänge und das Licht locken mich mit jedem meiner Schritte in die blau schimmernde Unterwasserwelt hinein.
Bald habe ich das Leben da draußen vergessen.
Wir haben das große Glück, diesen besonderen Ort beinahe für uns alleine zu haben. Neben uns sind nur wenige Touristen mit Kindern unterwegs.
Orangefarbene Schönheiten mit dunklen Kulleraugen verharren bewegungslos hinter der Scheibe, bevor ihre kleinen Körper mit zuckenden Bewegungen zwischen den Spalten der Felsen verschwinden.
Ein helles, krebsartiges Wesen hat sich gut getarnt im gleichfarbigen Kies eingebuddelt. Seine eindrucksvollen Scheren erkenne ich nur mit Mühe.
„Wir werden beobachtet!“, lacht mein Mann.
Tatsächlich, im Schein des blauen Lichts beäugt uns hinter der nächsten Scheibe ein lustiger, kleiner Kerl. Es sieht so aus, als würde er am Boden festkleben.
Mit dem zackenartigen Gebilde auf seinem Rücken kommt er mir vor wie ein Unterwasser-Punker.
Ein weißer Rochen sieht aus, als würde er permanent lächeln. Wie ein freundlicher Geist tanzt er elegant durch das Becken. Sein Kumpel liegt wie ein lebendig gewordener Teppich am Boden.
Nicht weit von ihm entfernt hat es sich ein unförmiger Klumpen mit Flossen im Sand bequem gemacht. Ein grauer Rochen kommt vorbei, um den Fisch-Klumpen anzuschubsen.
Der setzt sich bald darauf mit dem Charme einer Planierraupe in Bewegung. Schwerfällig kämpft er sich bis zum nächsten Felsvorsprung, wo er sich klotzartig zu seinen Artgenossen gesellt.
Weniger gemütlich lauert in einem Tongefäß die schlangenartige und mordsgefährliche Mittelmeermuräne. Weder mit noch ohne meinen Erdbeerdonut (das ist mein Schwimmreifen) möchte ich der Lady mit dem furchteinflößenden Gebiss begegnen. Nicht minder unheimlich wird es hinter der nächsten Scheibe.
Haie. Viele Haie!!!
Instinktiv lasse ich unsere Reiseschildkröte Zoé tiefer in der Tasche verschwinden.
Die grauen Körper der schaurigen Schönheiten mit den charakteristischen Rückenflossen ziehen ihre Kreise. Fast schon statisch, als würden sie ferngesteuert werden, legen sie Runde um Runde zurück. Ihre Augen verraten nichts. Eines der Tiere hat eine blutige Nase. Keine Ahnung, wen oder was es gerade gefressen hat.
Ein stattlicher Zackenbarsch schaut mich mit seinen kleinen Augen an, als laste alles Leid dieser Welt nur auf seinem Rücken. Seine wulstigen Lippen schließen und öffnen sich zu einem lautlosen Klagen.
„Na, Kumpel“, begrüße ich ihn. „Erzähl mal, was ist denn los?“
Mit einem bekümmerten Gesichtsausdruck wedelt er sich auf Augenhöhe und wendet sich nicht mehr von mir ab.
Wenn ich mit meiner Handfläche die Scheibe berühre, folgt der Fisch ohne zu zögern jeder Bewegung.
Er schwimmt sogar an meiner Seite, wenn ich vor der Scheibe auf und ab laufe.
Heeerz-Momeeent!!!
Es fällt mir schwer, mich von meinem ungewöhnlichen Freund zu trennen und weiterzuziehen.
Quallen zaubern mit ihren erstaunlichen Körpern kaleidoskopartige Muster in den Mini-Ozean.
Die Arme eines Tintenfisches ragen hinter einem Stein hervor und bewegen sich geschmeidig im Wasser wie die Haare der Medusa.
Ein kugeliger Kerl mit grauen Tupfen hat sich nuckelnd an der Scheibe festgesaugt, während uns ein gesprenkeltes Petermännchen aus eng zusammenstehenden Äuglein anschaut. Augen, Nase, Mund... alles an diesem Wesen ist so lebendig wie du und ich.
Vor dem nächsten Becken kommen wir uns vor wie in dem Film „Findet Nemo“.
Hier leuchten Fische in den schönsten Farben. Sie haben ein intensives Gelb oder kräftiges Lila. Andere sind himmelblau oder fliederfarben.
Und natürlich tummeln sich zwischen den Korallen jede Menge Clownfische. Sie sind die Verwandten des berühmten Filmstars Nemo.
Wir beobachten, wir fotografieren und filmen. Wir stellen uns in den Tunnel, der uns suggeriert, zwischen den Fischen zu sein. Wir lächeln, wir lachen, wir staunen und pressen unsere Nasen an die Scheiben.
In einer 3-D-Animation wird anschaulich dargestellt, wie die Schildkrötenbabys schlüpfen und unbeholfen durch den Sand krabbeln.
Was für ein erhabener Moment muss es sein, sie einmal live dabei zu beobachten, wie sie ins Meer und damit ins Leben hinein tauchen!
Wir ahnen nicht, dass uns in wenigen Minuten ein Erlebnis mit einer großen Portion Unvergesslichkeitszauber bevorsteht.
Durch die berührenden Erlebnisse mit den Meeresbewohnern sind unsere Sinne geschärft.
Plötzlich verstummt die entspannende Musik.
Ohne dass ich erklären könnte, warum es so ist, breitet sich eine verheißungsvolle Spannung im Raum aus.
Da sind nur wir, die Meeresbewohner und ein märchenhaftes Licht. In dem Becken vor unserer Nase kreiert es bewegliche Muster, die die Felsenlandschaft im Hintergrund lebendig werden lassen.
Als wolle er etwas Großartiges ankündigen, schwimmt ein blau-violetter Fisch mit gelben Flossen an uns vorüber.
Der Moment, in dem die Musik einsetzt, fühlt sich an wie ein Sonnenaufgang im Herzen.
Die unverwechselbare Melodie „May it Be“ von Enya durchflutet den Raum.
Als das Lied seine ganze Kraft entfaltet, taucht auf die Sekunde genau eine riesige Meeresschildkröte auf.
Ihr behäbiger Flossenschlag schaufelt sich mit jeder ruhigen Bewegung tiefer in mein Herz hinein. Als habe sie nur auf mich gewartet, schwimmt sie zielstrebig auf mich zu. Und dann tut sie nichts weiter, als mich minutenlang bewegungslos anzuschauen.
Meeresnähe, Herzklopfen, Gänsehaut, Kloß im Hals.
Herzmoment, Herzmoment, Heeerz-Momeeent!!!
Im Blick dieser Meeresschildkröte liegt alles Wissen.
Wie das Leben läuft, brauche ich ihr sicher nicht erklären.
Die Spuren auf ihrer Haut und ihrem Panzer verraten, dass sie mit jeder Verwundung stärker und weiser geworden ist. Sie vergeudet keine Zeit mit unnötigem Kram. Sie trifft ihre Entscheidungen leicht, beschwingt und intuitiv. Und sie entscheidet sich stets für das wirklich Wichtige.
Kreta fragt mich:
"Wofür entscheidest DU dich?
Was ist DIR wirklich wichtig? Wo willst DU hin?"
Gute Frage, denke ich.
Bevor ich mich weiter damit beschäftigen kann, setzt sich die weise Meeresschildkröte in Bewegung und verschwindet langsam hinter den Steinen.
Mein bester Ehemann von allen schmunzelt über das dauerhaft verklärte Lächeln in meinem Gesicht.
Ich schwebe auf Wolke sieben.
Meine Gedanken sind bei dem Fisch, der mir auf Schritt und Tritt gefolgt ist. Sie sind bei dem Petermännchen mit dem Menschen-Gesicht, und natürlich sind sie bei der Meeresschildkröte, die ich ganz sicher niemals vergessen werde. Sie und alle anderen Geschöpfe haben uns nicht nur ein paar schöne Stunden geschenkt.
Diese Geschöpfe haben uns die Welt der faszinierenden und liebenswerten Meeresbewohner so nahe gebracht, dass sie zu Freunden wurden.
Dass die vermeintlich heile Welt unserer schwimmenden Freunde alles andere als heil ist, zeigt sich zum Schluss der Ausstellung.
Die schöne Musik ist verstummt.
Das Licht in den letzten Becken ist nichtssagend.
Es ist grell, kalt und langweilig. Vergeblich suche ich nach den schönen Mustern, die es normalerweise auf den Meeresboden zaubert.
Da ist kein einziger Fisch, der mir folgen könnte.
Da ist auch kein Petermännchen, das mich anschaut, als sei es einer von uns. Und da ist auch keine Meeresschildkröte, die sich mit ihren ruhigen Bewegungen in mein Herz paddelt.
Stattdessen liegt jede Menge Müll am Meeresboden.
Leider ist die Verschmutzung der Meere weiterhin eine traurige Realität. Im CretAquarium werden Besucher nachhaltig für das Thema sensibilisiert.
Zigarettenstummel zum Beispiel. Es dauert bis zu fünf Jahre, bis die Giftstoffe abgebaut werden. Bei Farbe, Plastik, Benzin, Öl und anderen Substanzen kann es sogar bis zu fünfzig Jahre dauern. Der Anblick macht mich betroffen, er macht mich wütend und traurig.
Ich denke, wer das CretAquarium einmal besucht und Freundschaft mit den Meeresbewohnern geschlossen hat, kann nie wieder auch nur einen Kaugummi ins Meer spucken.
Der Dame, die im angrenzenden Souvenirshop arbeitet, fällt sofort auf, wie mich der Rundgang berührt hat.
Sie meint, wer diesen wunderbaren Meeresbewohnern einmal von Herz zu Herz begegnet ist, wird dieses Erlebnis nie mehr vergessen.
Was uns angeht, so stimmt das genau!
Wir streifen durch den Shop, um nach Souvenirs für unsere Lieben daheim zu stöbern, als mein Blick auf einen Schlüsselanhänger mit einer Schildkröte aus Olivenholz fällt.
„Meine!“, kräht mein innerer Souvenir-Monk.
„Was willst du damit?!“, fragt mein Verstand.
Und ganz leise höre ich die Insel flüstern:
"Zu Hause ist da, wo dein Herz wohnt."
Um die Sache abzukürzen:
Wir haben jetzt einen Schlüsselanhänger mit einer Schildkröte dran – für ein Haus auf Kreta, das wir gar nicht besitzen.
Alles, was an diesem Tag folgt, verblasst neben unseren Erlebnissen mit den anrührenden Meeresbewohnern.
Dieser Tag gehört ihnen.
Er gehört dem Meer, und damit einem wichtigen Teil meiner Inselfreundin. Und er gehört dem tiefen Wunsch, dass wir dieses Wunder erkennen, wahren und schützen.